Auf den ersten Blick nichts!
Es gibt Therapeuten, die „verkaufen“ ihren Patienten mundmotorische Übungen als Sport oder Fitnesstraining für Zunge und Lippen. Und tatsächlich wirken manche Übungen durchaus irgendwie sportlich, wenn es an Ringchen und Spatel geht oder wenn Ganzkörperübungen die myofunktionelle Therapie begleiten.
Wie ich in meinem letzten Artikel erklärt habe, halte ich persönlich diese Übungen bei „normal gesunden“ Menschen für nicht notwendig! Das sind also Therapieschritte, die für das Gros unserer vom Kieferorthopäden mit einem Logo-Rezept an uns verwiesenen Patienten schlicht entfallen können. Kein Sport also.
Oder doch?
Ja, denn wir befinden uns bei der myofunktionellen Therapie (die diesen Namen eigentlich gar nicht „verdient“!) im Bewegungslernen! Dieses wiederum ist elementarer Bestandteil jedes Sportunterrichts und Trainings.
Stellen wir uns eine Kinder-Fußballmannschaft vor:
Heute steht Passtraining auf dem Programm. Alle stellen sich paarweise auf.
- Aufgabe: Zunächst geht es nur darum, den Ball zum Gegenüber zu schießen. Egal wie, Hauptsache er kommt irgendwie an! Das erfordert, den Ball vorzugsweise mit dem Fuß so zu treffen, dass er in die annähernd richtige Richtung rollt oder fliegt und weder zu kurz noch zu lang kommt. Damit sind wir auf Stufe 1 des Bewegungslernens – die Grobmotorik muss klappen. Diese Phase erfordert viel Konzentration, denn das Gehirn muss eine gänzlich neue Bewegung lernen.
- Aufgabe: Die Bälle werden im Lauf zum Mitspieler gepasst. Jetzt muss die Bewegung also deutlich koordinierter ablaufen. Es geht an die Feinabstimmung – mit welcher Kraft in welche Richtung muss der Ball geschossen werden, damit er im Lauf des Mitspielers landet und dort angenommen werden kann. Das Gehirn beherrscht die Bewegung grob und lernt nun, sie besonders genau auszuführen. Die Bewegung wird noch nicht variiert, sondern dem Gehirn durch immer gleiche Ausführung eingeschliffen.
- Aufgabe: Das Passspiel möglichst oft zielgenau in einem Fußballspiel anwenden. Jetzt kann in einer komplexen Situation variiert werden. Lange und kurze Pässe zwischen Mitspielern hindurch oder gelupft. Variation ist quasi der gewünschte Zustand des Beherrschens einer Bewegung. Das gelingt, weil das Gehirn wenig Ressourcen zur Ausführung der nun schon gut automatisierten Bewegung bereitstellen muss.
Genau das gleiche Lernmuster findet sich in der Therapie, wenn es darum geht, einem Patienten das korrekte Kauen und Schlucken beizubringen.
Wir beginnen damit, dem Patienten das korrekte Schluckmuster beizubringen. Dazu schluckt er vielleicht zunächst Speichel oder ein wenig Wasser. Wenn das Bewegungsmuster damit stabil abgerufen wird, kann mit unterschiedlichen Konsistenzen begonnen werden. Wie funktioniert das Schlucken bei Joghurt, Brot, Obst?
Zunächst beginnen wir mit kleinen Mengen, also eben nur einem kleinen Löffel Joghurt, einem kleinen Bissen Brot. Wenn alle Konsistenzen so beherrscht werden, dann kann mit der Variation begonnen werden.
Variation bedeutet in diesem Zusammenhang, dass unterschiedlich große Mengen des jeweiligen Schluckgutes bewältigt werden können, die unterschiedlicher „Vorbehandlung“ im Sinne von Kauen oder auch nicht bedürfen. Und schließlich, dass während einer kompletten Mahlzeit mit unterschiedlichen Mengen und Konsistenzen mühelos und ohne erhebliche Konzentrationsleistung geschluckt werden kann. Damit nähern wir uns einer automatisierten Bewegung des Schluckens.
Natürlich muss auch das Kauen als automatisierte Bewegung betrachtet und, wenn gestört, auch in die Therapie einbezogen werden. Auch hier handelt es sich dann um Bewegungslernen.
Sport und Schlucken haben also mindestens in diesem Sinne durchaus etwas miteinander zu tun!