Flaschen statt Stillen -Ursache der MFS?

Immer wieder stolpere ich über das Thema Stillen/ Flasche in Zusammenhang mit den Ursachen einer Myofunktionellen Störung. Die Teilnehmer meiner Fortbildungen können bestätigen, dass dieses Thema regelmäßig dazu führt, dass ich mich in Rage rede!

Die Annahme, dass die Flaschennahrung Ursache für die Enstehung einer MFS ist, halte ich für gänzlich antiquiert. Nichtsdestotrotz wird sie munter weitergetragen und ist auf Webseiten von Zahnärzten und Kieferorthopäden ebenso zu finden wie in Bachelor-Arbeiten von LogopädInnen oder Fachbüchern.

Woher kommt denn diese Annahme?

Zu finden ist sie vor allem in den Schriften Daniel Garliners aus den späten 70er/frühen 80er Jahren, der beschreibt, wie seiner Meinung nach das korrekte Stillen abläuft. Jede Hebamme oder Stillberaterin würde seinen Beschreibungen energisch widersprechen.

Die Brustwarze liege im Mund des Säuglings und werde an der Rugae flach gedrückt. Hier geht es schon los mit den Unstimmigkeiten, denn die Brustwarze füllt praktisch den ganzen Mund aus und liegt nicht nur am vorderen Teil des harten Gaumens. Dort würde sie ziemlich schnell ziemlich wund werden.

Das Kind macht natürliche Melkbewegungen. So weit so gut.

Aber dann wird es schmerzhaft: Es saugt bis die Brust leer ist, lässt dann los und beißt erneut darauf. Das Kind beißt auf die Brustwarze, um den Milchfluss zu regulieren.

Zu lesen ist :„Wenn jemand glaubt, dass das Baby dabei nicht kräftig zubeiße, so braucht er nur eine stillende Mutter zu fragen, deren Kind einen oder mehrere vorzeitig durchgebrochene Zähne hat. Sie wird ihm sagen, wie schmerzhaft das ist.“ [Myofunktionelle Therapie in der Praxis – Gestörtes Schluckverhalten, gestörte Gesichtsmuskulatur, und die Folgen – Diagnose, Planung und Durchführung der Behandlung, Daniel Garliner, Bearbeitung der deutschen Ausgabe Hermann Hahn, 2. Erweiterte und überarbeitete Lizenzausgabe, Dinauer Verlag, Germering 1989]

Die Lippen seien c-förmig dicht an die Brust gepresst, der Orbicularis oris sei dabei sehr aktiv. Auch Masseter und Mentalis seien beim Stillen aktiv.

Schließlich kann man lesen, ohne Zweifel führe falsches Nähren der Säuglinge zu falschem Schluckverhalten, so Daniel Garliner.

Was kritisiert er an der Flaschennahrung?

  • Die Milch fließe zu schnell.
  • Das Baby trinke, anstatt zu saugen.
  • Es finde im Gegensatz zum Stillen nur ein Minimum an Vorverdauung im Mund statt.
  • Der Sauger sei zu lang und stoße deshalb an die Rachenhinterwand.
  • Das Baby habe deshalb das Gefühl zu ertrinken.
  • Der Milchfluss könne nur durch den Vorstoß der Zunge zum Verschließen des Saugers gestoppt werden.
  • Der Orbicularis oris bleibe passiv und damit unterentwickelt.

All diese Annahmen sind entweder falsch oder heute schlicht nicht mehr gültig.

Die Milch fließt bei einem der Art der Milchnahrung angepassten Sauger nicht zu schnell. Auch hier muss das Kind natürlich saugen.

Garliner behauptet sogar, dass in allen Fällen, in denen trotz des Stillens später eine MFS vorlag, alle Mütter angegeben hätten, dass bei ihnen die Milch auch besonders schnell geflossen sei! Das ist interessant, denn mir ist kein Wert für die Standardfließgeschwindigkeit der Muttermilch bekannt. Hinzu kommt, dass während der bis zu 9 Let-Down-Reflexe (Milchspendereflexe) pro Stillmahlzeit die Milch meist nur so herausschießt. Die meisten Säuglinge sind allerdings bereits nach dem ersten Reflex schon halbwegs gesättigt.

Zur Vorverdauung ist zu sagen, dass die orale Phase des Säuglings beim Stillen genauso kurz ist wie beim Trinken aus dem Fläschchen. Die Milch sammelt sich nach 1 bis 3 Saugbewegungen in den Valleculae und wird geschluckt, wenn dieses „Sammelbecken“ voll ist. Das ist bei der Flasche nicht anders.

Die heutigen Sauger sind mitnichten so lang, dass sie an die Rachenhinterwand des Säuglings stoßen. Die Flasche sollte außerdem auch immer so gehalten werden, dass sie nicht auf dem Mund des Kindes „abgestützt“ wird, sondern dass merklich gesaugt werden muss. Die Sauger haben das Loch nicht mehr vorn in der Mitte, sondern oben in Richtung des Gaumens. Die Zunge muss sich also nicht anterior orientieren, um ein Loch zu stopfen, weil das Kind vermeintlich ertrinke.

Wie geht das eigentlich, dass gleichzeitig ein zu langer Sauger an der Rachenhinterwand des Kindes liegen soll, welches gleichzeitig die Zunge nach vorne orientieren muss, um sich dort durch Verschließen des Loches mit der Zunge vor dem Ertrinken zu retten?

Die Zunge bewegt sich gerade in den ersten Lebensmonaten kaum unabhängig vom Unterkiefer und beim Trinken eigentlich nie über die Lippengrenze hinaus.

Einer der Knackpunkte ist außerdem die Aktivität des Orbicularis oris: Beim Stillen und auch beim Trinken aus der Flasche mit den heute üblichen Weithals-Saugern ist der Orbicularis oris weitgehend passiv! Beim Trinken an der Mutterbrust ist der Mund weit geöffnet, die Lippen liegen leicht aufgestülpt um die Brustwarze und einen großen Teil des Warzenhofes herum an der Brust an.  Der Masseter hat deutlich weniger zu tun, als angenommen, denn beim erfolgreichen Stillen beißt der Säugling gerade nicht!

Stillen soll nicht schmerzhaft sein! Das weiß jede Hebamme! Wenn es dies dennoch ist, dann ist eine entsprechende Beratung angezeigt, die Mutter und Kind ein entspanntes Stillen bzw. gestillt werden ermöglicht.

Garliners Annahmen über das Stillen sind so jedenfalls meiner Meinung nach nicht haltbar. und gleichzeitig sind es seine Annahmen über die Arbeit der Muskulatur dabei ebensowenig. Catherine Watson Genna, eine amerikanische Lactationsberaterin, hat sich mit der Muskulatur beim Stillen und beim Trinken aus der Flasche beschäftigt und kommt zu dem Ergebnis, dass die Aktivitäten von Orbicularis oris und Buccinator an der Flasche sogar stärker, die Aktivitäten von Masseter und Mentalis weniger stark ausgeprägt sind als beim Stillen. Es gibt also Unterschiede, aber nicht in der Art und Weise wie Garliner sie beschreibt.

Allen Therapeuten im Bereich der MFS möchte ich unbedingt das Buch „Frühkindliche Dysphagien und Trinkschwächen“ von Daniela Biber (Springer Verlag Berlin Heidelberg, 2012, 2. Auflage 2014) empfehlen. Hier sind wunderbar die Entwicklung des Saugens, Schluckens und Kauen beschrieben und die einzelnen Phasen der Nahrungsaufnahme beim Säugling.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin absolut der Meinung, dass Stillen das Beste für Mutter und Kind ist, von den praktischen und finanziellen Aspekten mal ganz abgesehen. Vorausgesetzt es bestehen keine Hinderungsgründe, wie z.B. schwere Erkrankungen der Mutter mit Medikamentenbehandlung, die dem Kind schaden würde, soll ruhig stillen, wer kann und möchte. Die Empfehlung der WHO ist da ebenfalls eindeutig.

Aber ich bin auch der Meinung, dass es kein Beinbruch ist, wenn es eben nicht klappt oder Frau es nicht kann oder will. In meiner Praxis kann ich keinen Unterschied zwischen gestillten und nicht gestillten Kindern erkennen. Stillkinder haben genauso häufig eine MFS wie die „Flaschenkinder“. Andere Ursachen sehe ich da deutlich weiter vorn in der Liste: Adenoide zum Beispiel.

Für alle Mütter, die sich bisher mit einem schlechten Gewissen rumgeschlagen haben, weil ihre Kinder eine Zahnspange brauchen, weil sie vor x Jahren nicht oder nicht lange genug gestillt wurden: Vergessen Sie es und entspannen Sie sich!