Warum die „myofunktionelle Störung“ gar keine myofunktionelle Störung ist!

Die Definition der myofunktionellen Störung (MFS) sagt seit Jahrzehnten, dass Symptome wie ein persistierendes viszerales Schluckmuster oder eine pathologische  Zungenruhelage in einer Störung der Muskulatur im Mund-Gesichts-Bereich begründet liegen. Das muskuläre Gleichgewicht aller am Schlucken beteiligten Strukturen sei aufgrund einer isolierten Fehlfunktion der Wangen-, Lippen- und Zungenmuskulatur betroffen. Man geht also davon aus, dass die Muskulatur, die für Schlucken und Zungenruhelage zuständig ist, aus unterschiedlichen Gründen zu schwach ist, um physiologische Abläufe zu gewährleisten.

Die Konsequenz für die Therapie besteht ebenso seit Jahrzehnten darin, die vermeintlich zu schwache Muskulatur zu stärken. Um die Lippen und vor allem die Zunge zu kräftigen, existiert denn auch ein entsprechend dicker Übungskatalog für dieses Unterfangen. Zunge rauf, runter, rechts, links, Oberlippe ablecken, Unterlippe ablecken, im Uhrzeigersinn und wieder zurück, gegen den Spatel, auf den Spatel, mit Ringchen und ohne Ringchen ansaugen, Kussmund, Opamund, Lippen übereinander schieben, breitziehen, Fischmund, Bonbonmund und so weiter und so fort…

Vielleicht gehen Sie auch nach N!FT oder Padovan vor: Dann arbeiten Sie  mit Therapiesaugern, Spateln, Kauschläuchen, Papiertröten, etc. und zwar mit Patienten jeden Alters. Ziel ist jedenfalls neben der Koordination immer die Kräftigung der Muskulatur.

Was allen Therapiekonzepten gemeinsam ist: Keines kommt ohne die direkte Arbeit am Schlucken und der Zungenruhelage und deren Habitualisierung aus.
Im Grunde widerspricht das doch aber der Annahme über die Ursache der MFS, dass nämlich eine zu schwache Muskulatur der Störung zugrunde liege. Denn wenn die Muskulatur ausreichend gekräftigt wäre, dann müssten sich doch quasi von allein das Schlucken und die Zungenruhelage normalisieren. Das tun sie aber nicht!

Dann stellt sich doch die Frage, ob diese Annahme überhaupt richtig ist. Was wäre wenn die Muskulatur, jedenfalls bei Menschen ohne den Muskeltonus betreffende Grunderkrankung, damit gar nichts zu tun hätte? Geht es vielleicht eigentlich nur darum, eine neue Bewegung zu lernen?

Nehmen wir doch ein anderes Beispiel: Ein Kind will Fahrradfahren lernen. Welche Vorbereitungen treffen Eltern dafür? Sie kaufen einen Fahrradhelm, vielleicht auch Knie- / Ellenbogenschützer und natürlich ein Fahrrad. Aber kaufen Sie auch ein Fitnessgerät, um erstmal die Muskulatur in den Beinen zu kräftigen? Wohl kaum!

In diesem Beispiel gehen wir doch selbstverständlich davon aus, dass es „nur“ um das Lernen einer neuen Bewegung geht. Wir denken nicht, das Kind hätte eine zu schwache Muskulatur und wenn die nur kräftig genug wäre, dann würde das Fahrradfahren schon von allein klappen.
Nein! Wir bringen dem Kind die Bewegung bei!

Und genau das tun wir, wenn wir ein physiologisches Schlucken und die Zungenruhelage anbahnen! Das ist Bewegungslernen. Deshalb kann meiner Erfahrung nach das zeit- und nervenraubende Training der Muskulatur entfallen und direkt mit den Zielbewegungen begonnen werden! Denn die Patienten haben bereits genug Kraft, um die Bewegungen ausführen zu können. Sie haben also im eigentlichen Sinne keine myofunktionelle Störung, sondern aus welchen Gründen auch immer die physiologischen Bewegungen nicht gelernt!